Wie lange noch nagen die Baggerzähne?

Fotomontage: Kiesabbau
So könnte es künftig aussehen: Ohr als "Insel" umgeben von Kiesteichen. Keine schöne Zukunftsvision, meinen Anwohner und Naturschützer. Fotomontage: M. Waldeck
Foto: Weser
Großer Weserbogen mit Baggerseen bei Porta Westfalica: Freizeitvergnügen statt Naturschutz. Quelle: Weserbogengesellschaft

In so mancher Gemeinde an der Weser gärt es. Der Grund: Die Zahl der Kiesgruben soll weiterwachsen.
Viele Bürger nehmen es nicht mehr klaglos hin, dass das Land um sie herum in eine Seenplatte verwandelt wird.

"Irgend jemand macht da richtig Kies mit Kies", wetterte Norbert Kosel, "der soll dann auch die erforderlichen Gutachten bezahlen." Der Vorsitzende der "Bürgerinitiative gegen Kiesabbau Ohr 2 e.V." ist überzeugt, dass der geplante zweite Kies-Nassabbau dem 500-Seelen-Dorf Ohr an der Weser (Gemeinde Emmerthal, Landkreis Hameln-Pyrmont) eine Menge Unheil bringen wird. Mehr Nebel, Lärm und Schwerlastverkehr, eine verschandelte Landschaft und nicht zuletzt die völlige Verinselung des Ortes selbst mit all diesen Auswirkungen müsse gerechnet werden, sagte Kosel im Oktober auf einer Informationsveranstaltung des Hamelner Natur- und Umweltschutzzentrums. Die BUND-Kreisgruppe Hameln, der LBU (Landesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz) und der NABU (Naturschutzbund Deutschland) hatten Vertreter von Bürgerinitiativen, Planer und Ökologen in die Räume der Hamelner Pfortmühle eingeladen, um die heikle Frage zu diskutieren, wie lange noch die Baggerzähne an ihrer Heimat nagen. Dabei ging es vor allem um die konfliktträchtigen Auskiesungsprojekte "Ohr" und "Großenwieden" im Landkreis Hameln-Pyrmont.

Nach dem Landesraumordnungs- Programm sind in den niedersächsischen Weser- Landkreisen Gebiete in einer Größenordnung von 9.039 Hektar als Vorranggebiet für Rohstoffgewinnung ausgewiesen. Davon sind 1.757 Hektar bereits abgebaut, 851 Hektar befinden sich im Abbau und über 1.740 Hektar sind in Planung!

Entdeckt: Eine Riesen-Kieslagerstätte
Die Wellen schlagen hoch in Ohr, seitdem im Südwesten des beschaulichen Weserdorfes gewaltige Kiesvorräte entdeckt worden sind. Eine Kieslagerstätte von fast 80 Metern Mächtigkeit und 100 Hektar Ausdehnung - diesen sensationellen Befund brachte eine Bohrung eines örtlichen Kiesunternehmers zutage. "Ein solches Vorkommen haut sämtliche bekannte Maßstäbe um", meinte auch Jörg Heine vom Amt für Regionalplanung des Landkreises Hameln-Pyrmont.

"Die Lagerstätte ist für die Rohstoffgewinnung von außerordentlicher Bedeutung." Denn hochwertiger Kies, so wußte der amtliche Planer, sei ein national und international begehrter Rohstoff. Das hat auch das Land Niedersachsen schnell erkannt: Innen- und Wirtschaftsministerium wollen nun die gesamte Fläche mit der Bezeichnung "Ohr 2" als Vorranggebiet für Rohstoffgewinnung in das Landesraumordnungs-&wbr;Programm aufnehmen.

Ein Dorf wehrt sich
Seitdem ist der Bürgerfriede in Ohr dahin: Während Bürgermeister Karl Heißmeyer (SPD) das neue Abbauprojekt begrüßt und Ohr zum regionalen Auskiesungszentrum machen möchte, laufen die meisten Einwohner Sturm gegen das geplante "Riesenloch" in der Landschaft. Fast das halbe Dorf hat sich mittlerweile der im März gegründeten Bürgerinitiative angeschlossen. Der Unmut wendet sich vor allem gegen das Abbauprojekt Ohr 2, gegen das sich das bereits genehmigte, etwa 40 Hektar große Abbaugebiet "Ohr 1" am westlichen Weserufer fast harmlos ausnimmt: Ohr 2 würde den gesamten Süden und Südwesten Ohrs mit riesigen Wasserflächen abriegeln.

"Wir werden unser Dorf wohl kaum noch über den Landweg verlassen können", frotzelte Kosel vor den rund 40 ZuhörerInnen. Umzingelt von Kiesteichen und der Weser, bliebe den Ohrschern irgendwann nur noch der Weg über den nördlich gelegenen Ohrberg.

Eine ernste Bedrohung für Ohr sah Kosel vor allem in den zu erwartenden Klimaveränderungen durch die zahlreichen offenen Wasserflächen: "Dunst und Nebel werden in Ohr, begünstigt durch seine Tallage, deutlich zunehmen. " Das habe ein von der Bürgerinitiative in Auftrag gegebenes Kurzgutachten gezeigt.

Nebel aber beeinträchtige unmittelbar die Solarsiedlung am Ohrberg mit ihren Sonnenkollektoren und Photovoltaik-Anlagen. "Es ist doch verrückt, eine ökologische Mustersiedlung, die übrigens als Expo-Projekt anerkannt ist, mit öffentlichen Geldern zu fördern und gleichzeitig Pläne aufzustellen, die das Ganze wieder gefährden", ärgerte sich Architekt Kosel. Seiner Meinung nach können nur noch gründliche und neutrale Gutachten den Konflikt in Ohr entschärfen.

Abbau nach Zeitstufenplan?
Jörg Heine mochte die Aufregung nicht so recht verstehen. Nach dem sogenannten "Bodenabbauleitplan Weser" der Bezirksregierung Hannover dürfe der Kiesabbau Ohr 2 doch erst in 30 Jahren in Angriff genommen werden, versuchte der Amtsvertreter zu beruhigen. Dieser Plan sehe nämlich zwei Zeitstufen vor: die Zeitstufe 1 für den kurzfristigen Abbau von Kies und Sand und die Zeitstufe 2 zur langfristigen Sicherung von Rohstoffen für mindestens 25 bis 30 Jahre. "So paradox es klingt, die Festlegung von Ohr 2 als Vorranggebiet mit der Zeitstufe II bedeutet de facto ein Schutz dieser Flächen für 30 Jahre".

Kosel mag daran nicht glauben. "Ob die Zeitstufenregelung auch juristischen Bestand hat, wird sich bald zeigen", sagte der Architekt unter Hinweis auf einen Rechtsstreit in Hessisch Oldendorf. Denn in der Weserstadt schwelt ein Konflikt, seitdem die Planungsbehörden 1997 eine 213 Hektar große Abbaufläche bei Großenwieden in die Zeitstufe II des Bodenabbauleitplans beförderte.

Für die betroffenen Kiesunternehmer Ready-Mix aus Tündern und Eggersmann aus Rinteln, die jeweils eine Hälfte des Gebietes ausbeuten wollen, bedeutet das: 30 Jahre Warten auf den lukrativen Kiesabbau. Ready-Mix und Eggersmann wollen das nicht hinnehmen und drängen auf eine Planfeststellung für die gesamte Fläche am Ostrand Großenwiedens. Sie wollen zumindest den abschnittsweisen Abbau von Kies in den nächsten Jahren durchsetzen. "Das könnte bedeuten, dass sie in den ersten 15 Jahren nur eine Fläche von unter 10 Hektar ausbeuten dürfen und erst danach die nächsten 10 oder 20 Hektar und so weiter", meint Dirk Thürnau, Stadtbaurat der Stadt Hessisch Oldendorf. "Ob man das aber mit einer Planfeststellung wirklich so langfristig und verbindlich steuern kann, bleibt die Frage." Dazu wolle nun der Landkreis Hameln-Pyrmont als plangenehmigende Behörde ein Rechtsgutachten einholen.
"Wir sind gespannt auf den Ausgang des Streites", meint Frank Hilker von der Bürgerinitiative Großenwieden.
Er begrüßt, dass Stadt und Landkreis das seiner Meinung nach überdimensionierte Abbauvorhaben für 30 Jahre auf Eis gelegt haben. Großenwieden sei mit mehreren Kiesgruben ohnehin schon geschädigt und wolle ebenso wenig wie Ohr "zur Insel mutieren".

Bauschutt recyceln statt Kies abbauen

Für die Vertreter der Bürgerinitiativen ist sowieso klar: Es wird zuviel Kies abgebaut, die zugrunde gelegten Bedarfsprognosen sind zu hoch gegriffen.

 

Die Rohstoff-Bedarfsanalysen des Niedersächsischen Landesamtes für Bodenforschung (NLfB) in Hannover entscheiden maßgeblich über die Ausweisung von Vorranggebieten im Landesraumordnungsprogramm - insgesamt geht das NLfB von einem jährlichen Verbrauch von rund 50 Millionen Tonnen Kies und Sand in Niedersachsen und Bremen aus.

"Dabei ist nicht berücksichtigt, dass der Bedarf an primären mineralischen Rohstoffen in den nächsten Jahrzehnten immer weiter zurückgehen wird", glaubt Norbert Kosel. Er beruft sich auf einen Bericht des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, der bis zum Jahr 2040 einen Nachfrage-Rückgang bei Kies und Sand (gegenüber der Nachfrage von 1995) um fast 50 Prozent prognostiziert. Grund: Im Bausektor würden zukünftig immer mehr sogenannte sekundäre Rohstoffe eingesetzt, also nicht mehr benötigter und wieder aufbereiteter Bau- und Straßenschutt.

"Diese Materialien landen heute leider noch allzu oft auf den Deponien", klagt Kosel. Das sei keine nachhaltige Rohstoffbewirtschaftung.

Aus Kies Kies machen
Ungeachtet der Prognosen herrscht Goldgräberstimmung im Wesertal. In seinen Tiefen liegt noch immer eine Menge Kies begraben, und "der ist auf dem Markt was wert", glaubt auch Dirk Thürnau vom Planungsamt in Hessisch Oldendorf. Norbert Kosel rechnet es vor: "Wenn in Ohr auf 80 Hektar und bis zu einer durchschnittlichen Tiefe von 50 Metern ausgekiest wird, ergibt das rund 80 Millionen Tonnen Kies.

Bei einem Verkaufspreis von 12 Mark pro Tonne sind das knapp eine Milliarde Mark." Doch trotz dieser "kiesigen Aussichten" gibt die Bürgerinitiative nicht auf. "Wir werden weiter dafür kämpfen, dass Ohr so bleibt wie es ist", sagt Kosel entschlossen. Und das bedeutet: keine weiteren Vorranggebiete mehr für Rohstoffgewinnung.

Sabine Littkemann

Kiesabbau - (k)eine Chance für den Naturschutz

Foto: Kiesgrube
Kiesgrube in der Weseraue bei Höxter-Godelheim: Dieser etwa 1 Hektar große Bereich mit auentypischen Lebensraumstrukturen ist im Verlauf des Abbaus entstanden und später wieder dem Bagger dem Opfer gefallen. Foto: B. Schackers

Nur etwa drei Prozent der Kiesgruben auf der nordrheinwestfälischen Seite der Weser weisen annähernd flussauen-typische Strukturen auf (Untersuchung von Hans Böttcher et al, 1991, Universität GH Paderborn, Abt. Höxter). Nach Ansicht von Bernd Schackers vom Umweltinstitut Höxter ist das ein vernichtendes Urteil über den Zustand von Abgrabungen in der Weseraue. Seine Hauptkritikpunkte: Kiesgruben haben meist einheitliche und steile Böschungen, keine Flachwasserzonen und landschaftsuntypische rechteckige Umrisse.

Kleinstrukturen fehlten meist völlig. Besonders gravierend: Im Uberschwemmungsbereich der Aue gebe es keine durch Hochwasser verursachten Materialumlagerungen mehr. "Gerade aber diese dynamischen Prozesse sind für naturnahe Flusslandschaften typisch und bringen eine nicht zu beziffernde Zahl von Arten hervor." Trotzdem seien viele Kiesgruben als Naturschutzgebiete ausgewiesen.

"Einen wirklich hohen Naturschutzwert haben Kiesgruben während der Zeit des Abbaus bis wenige Jahre danach, wenn auf großen Flächen Rohböden, Abbruchkanten, Sand und Kiesflächen entstehen, die von auentypischen Bewohnern besiedelt werden können", meint Schackers. Der Landschaftsplaner plädiert dafür, Abgrabungsvorhaben auf das absolute Minimum zu begrenzen. "Bleibt der Eingriff unvermeidbar, müssen Kiesgruben anschließend so hergerichtet werden, dass sie auentypische Strukturen aufweisen und an das Uberflutungsgeschehen der Weser angebunden sind", fordert Schackers. Auch müssten Freizeit- und andere Folgenutzungen ausgeschlossen werden. Grundsätzlich aber seien Kiesgruben nur schwer vereinbar mit dem Leitbild einer naturnahen Flusslandschaft.

lit

Stichwort: Kies

Als Kies werden gerundete Gesteinskomponenten mit einer Größe von 2 bis 60 Millimeter bezeichnet, die nach Fein-, Mittel- und Grobkies unterteilt werden. Es handelt sich dabei um Mineral- oder Gesteinsbruchstücke, die bei der physikalischen und chemischen Verwitterung von Festgesteinen entstanden sind. Durch die Transportkraft des Wassers haben sich in der jüngsten geologischen Vergangenheit (Eiszeiten) Anreicherungen von Kies und Sand gebildet, die heute als Lagerstätten nutzbar sind. Vor allem die Flüsse haben den Kies stromabwärts transportiert, weiter zerkleinert und schließlich abgelagert. Kieslagerstätten sind in Niedersachsen daher vor allem an die Flußläufe von Weser, Leine, Oker, Oder, Sieber und Rhume gebunden. Kies findet überwiegend Verwendung im Straßenbau und als Beton-Zuschlagstoff.

lit

Stichwort: Vorranggebiete

Der Niedersächsische Landtag hat 1994 ein Gesetz über das Landesraumordnungsprogramm Niedersachsen (LROP) verabschiedet. Das LROP schreibt vor, dass besondere Standortvorteile einzelner Teilräume im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Niedersachsens berücksichtigt werden müssen. Im LROP werden daher Vorranggebiete ausgewiesen, etwa für die Rohstoffgewinnung. Fachliche Grundlage hierfür ist die Rohstoffsicherungskarte des Niedersächsischen Landesamtes für Bodenforschung in Hannover. Vorranggebiete gibt es aber auch für Natur und Landschaft, für Grünlandbewirtschaftung oder für Trinkwassergewinnung.

Das LROP lässt eine zeitliche Staffelung der Abbauvorhaben ausdrücklich zu. Eine solche Zeitstaffel mit zwei Zeitstufen (Zeitstufe 1: kurzfristiger Abbau, Zeitstufe II: langfristige Sicherung von Rohstoffen) sieht etwa der sogenannte "Bodenabbauleitplan Weser" für die Kreise Nienburg, Schaumburg, Hameln-Pyrmont und Holzminden vor. Dieser Plan wurde 1997 von der Bezirksregierung erstellt, um die ökologischen und umweltpolitischen Probleme des Kiesabbaus nicht mehr isoliert für einzelne Gemeinden zu betrachten, sondern aus einer übergeordneten Perspektive.

Räumlich konkretisiert wird das LROP durch sogenannte Regionale Raumordnungsprogramme (RROP), die durch die Kreistage rechtskräftig werden. Gibt es kein gültiges RROP wie im Landkreis Hameln-Pyrmont, gilt automatisch inhaltlich das LROP. Die konkrete planerische und raumordnerische Umsetzung von Vorrangfestlegungen muss dann durch Bauleitplanung oder Planfeststellung erfolgen.

lit



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