Da stehen sie, diese Baumindividualisten, bemoost und flechtenbedeckt, Kuh und Pferd kratzen sich Hals und Hintern an ihren knorrigen Stämmen, inmitten einer hoffnungslos verkrauteten Wiese.
In der Frühjahrslandschaft leuchten ihre weißrosa Blüten, und im Herbst biegen sich bei so manchen Baum die Äste unter der Last der Früchte: Äpfel, Birnen, Zwetschgen körbeweise. Ein vertrautes Bild, so scheint's, und doch: Der Anblick einer bäuerlichen Streuobstwiese ist selten geworden.
Niedergang der Streuobstwiesen
Als Streuobstwiesen werden locker über "die Wiese gestreute" hochstämmige und nur extensiv bewirtschaftete Obstbaumbestände bezeichnet. "Hochstämmig" bedeutet dabei, daß die Verzweigung im Baum erst ungefähr in Augenhöhe (ca. 1,80 m) beginnt. Die Bäume haben einen großen Abstand voneinander (mindestens 10 bis 12 Meter), so daß sie richtige Kronen ausbilden können. Bis in die fünfziger Jahre hinein waren Streuobstwiesen ein bestimmendes Element unserer dorfnahen Kulturlandschaft - dann fielen sie einem regelrechten Feldzug zum Opfer. Denn die launischen Baumveteranen, die nicht nur viel Platz benötigten, sondern auch nur alle zwei bis drei Jahre reichlich Obst trugen, entpuppten sich als relativ untauglich für den kommerziellen Obstanbau. Halbstämmchen und Spindelbüsche, sogenanntes schwachwüchsiges Obstgehölz, hielten Einzug in Obstplantagen und Kleingärten. Ihre Vorteile:
Sie tragen schneller, sind kleiner und leichter abzuernten. Dafür benötigen sie weitaus mehr Pflegeschnitte und sind anfälliger für Krankheits- und Schädlingsbefall.
Die Kampagne gegen alte Obstbäume gipfelte in einer von den Landwirtschaftsministerien gewährten Rodungsprämie für jeden abgeschlagenen Hochstamm-Obstbaum. In der Hauptrodungphase zwischen 1970 und 1973 wurden beispielsweise in Westfalen-Lippe 430.000 Bäume auf einer Fläche von 3.140 Hektar gefällt, mehr als die Hälfte des Bestandes!
Ziel der Rodungspolitik war eine EG-diktierte Vereinheitlichung des Marktes. 1980 gab es nur noch 70 Handelssorten von Äpfeln, darunter 30 Hauptsorten, von denen wiederum nur etwa zehn in die Läden gelangten. Ein ansprechendes "Äußeres" und gleichbleibender Geschmack waren die entscheidenden Kriterien für die Marktkonformität einer Apfelsorte. Ein trauriges Bild für Deutschland, das einst "Apfel- und Obstland" Nummer Eins war. So kamen beispielsweise 1866 bei einer Obstausstellung in Lüneburg 943 Obstsorten zusammen! Der niedersächsische Superintendent Georg Conrad Oberdiek, einer der führenden Pomologen (Pomologie= Obstkunde) dieser Zeit, rühmte sich gar, 300 verschiedene Sorten auf einem Apfelbaum veredelt zu haben und insgesamt über 4.000 Obstsorten zu besitzen!. Dieser bemerkenswerte und schon damals nicht unumstrittene Sortenreichtum war vor allen Dingen der intensiven Züchtertätigkeit vieler Pastoren und Lehrer zu verdanken.
Ohne Nutzung keine Zukunft
Aber nicht nur die Bemühungen der EG um die Standardisierung der Handelssorten hat der bäuerlichen Streuobstwiese beinahe den Garaus gemacht. Nicht minder gravierend wirkte sich der Strukturwandel in der Landwirtschaft selbst aus.
Kleinbäuerliche Mischbetriebe mit einem hohen Selbstversorgungsgrad wurden in den letzten Jahrzehnten immer mehr von spezialisierten, intensiv wirtschaftenden Agrarbetrieben verdrängt. Damit kam auch das Ende vieler Streuobstwiesen - sie wurden unwirtschaftlich. Der Verkauf von Streuobst lohnt sich in der Regel nicht, da es mit dem marktüblichen Obst nicht konkurieren kann, und der Eigenbedarf spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle.
Viele dörfliche Obstbaumgürtel fielen außerdem der expandierenden Siedlungsentwicklung zum Opfer. Wo Streuobstwiesen dennoch "überlebt" haben, zeugen nicht selten vernachlässigte Bäume, unter denen das Obst gleich zentnerweise vor sich hin fault, vom Desinteresse der Besitzer.
Naturschutz für Streuobst
Lange in ihrem Wert verkannt, erleben Streuobstwiesen seit einigen Jahren ein regelrechtes Comeback.
In einem ungewöhnlichen Schulterschluß bemühen sich Obstliebhaber und Naturschützer um den Erhalt und die Schaffung von extensiv bewirtschafteten Obstwiesen. Denn es hat sich herausgestellt, daß mit der Vernichtung der Streuobstwiesen nicht nur viele alte Obstsorten unwiderbringlich verschwinden, sondern auch eine artenreiche Lebensgemeinschaft unmittelbar bedroht ist. Ein lockerer Baumbestand über einer kräuter- und blütenreichen Wiese, Totholz, Baumhöhlen, Blüten, Früchte und Fallobst sind einidealer Lebens- und Nahrungsraum für Insekten, Vögel und Säugetiere - bis zu 3.000 Tierarten leben direkt oder indirekt von einer Streuobstwiese! "Perlen" der Artenliste sind Vögel wie Wendehals, Pirol und Neuntöter, seltene Fledermausarten, Bilche und Marder. Sie profitieren ebenso wie Schleiereule und Steinkauz, die hier des Nachts auf Mäusejagd gehen, vom Nahrungsreichtum einer Streuobstwiese.
Verbände im Obstbaum-Fieber
Vom "Streuobst-Fieber" gepackt sind mittlerweile zahlreiche BUND-Kreis- und Ortsgruppen. Von der Nordsee bis ins Mittelgebirge, von der Elbe bis bis ins Osnabrücker Land - überall werden Hochstamm-Obstbäume gepflanzt, gehegt und geschätzt.
Das Obstprojekt der Kreisgruppe Aurich begann 1989 auf einer Waldlichtung: Dort pflanzte die BUND-Jugend eine Streuobstwiese. Aus den zarten Anfängen ist mittlerweile ein Schwerpunkt der Kreisgruppenarbeit geworden. Seit 1994 pflanzt der BUND mit Unterstützung der Stadtverwaltung Aurich Hochstamm - Obstbäume auf städtischen Grünflächen, an Wegesrändern und in Naherholungsgebieten. "Wichtig ist uns dabei, daß altbewährte und standorterprobte Sorten gepflanzt werden", betont Rolf Runge, Kreisvorsitzender und Mitglied des BUND-Landesvorstandes.
"Sie sind Teil unserer regionalen Kultur, und lebender Beweis dafür, daß eine dezentrale und jahreszeitlich orientierte Ernährung möglich ist." Apfelsorten wie Geheimrat Dr. Oldenburg, Biesterfelder Renette und Dülmener Herbstrosenapfel sind nun am Ostfriesland-Wanderweg zu bestaunen.
Die Kreisgruppe Aurich bot im vorigen Jahr erstmalig Schulen in der Region an, Obstbäume auf dem Schulgelände zu pflanzen - "die Resonanz war gewaltig", freut sich Rolf Runge. Viele Schulklassen haben jetzt "ihren" Obstbaum.
Auch die BUND-Kreisgruppe Celle ist seit einem Jahr Eigentümerin einer Streuobstwiese. Unter der Anleitung von Obstbauexperte Walter Reccius wurden 1995 auf einer rund ein Hektar großen Feuchtwiese im Allertal 50 Jungbäume gepflanz - mit dabei waren nicht nur Mitglieder der BUND-Kreisgruppe, sondern auch Betriebsangehörige des Reformwarenherstellers Eden, der seinen Verwaltungssitz in Celle hat. Neben 35 Apfelbäumen der verschiedensten Sorten wie Celler Dickstiel, Boskoop oder Jacob Lebel stehen auch die Süßkirschen Oktavia und Karina, die Birnen Gute Luise und Gellertsbutterbirne und die Hauszwetschge auf der so entstandenen Streuobstwiese. Die Pflege der nun fünfjährigen Bäumchen haben BUND und die Firma Eden gemeinsam übernommen. In sechs bis acht Jahren, so hofft Walter Reccius, soll es erste nennenswerte Obsterträge geben.
Sabine Littkemann
Zum Weiterlesen:
BUNDSpecht Nr. 7 -
Obstwiese im Kommen
BUND-Kreisgruppe
Aurich
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