Der Schmetterling
Cord steckte den Kopf aus dem Scheunentor. „Jetzt!“ Wir ließen unser Spielzeug fallen und stürzten zur Scheune.
Angefangen hatte alles ganz anders. „Mensch, diese blöden Brennnesseln!“ hatte ich leise vor mich hingeschimpft. Natürlich war ich wieder durch das Brennnesselgestrüpp gerannt. Und diese Würmer – puh, das war ja wirklich widerlich! Die ganzen Brennnesseln saßen voll davon. Ich suchte mir einen Stock und schlug die Brennnesseln ab. Ich hinterließ eine Wüste und hielt es für Ordnung.
- „Ja, aber – wusstest Du denn nicht, dass die Würmer Schmetterlinge werden?“ fragte Mutter. Ich starrte sie fassungslos an. „Die Würmer ? Diese ekelhaften ... - ?“
„Ja, die Schmetterlinge legen ihre Eier unter die Brennnesselblätter. Die Sonne brütet sie aus, und die kleinen Würmer fressen sich dick und groß, und dann kriechen sie irgendwo hin, wo es schattig und geschützt ist, und kleben sich an die Wand und verpuppen sich. Nach einiger Zeit, wenn sie fertig sind, kommen die Schmetterlinge heraus. Darum darf man auch die Brennnesseln nicht abmachen, sondern man sollte sie in Ruhe lassen, weil nämlich die kleinen Räupchen nur Brennnesseln fressen können.“ „Iiiiiiiihh!“, sagte Cord. „Ich würde Schokoladenpudding essen, wenn ich ein Wurm wäre!“, meinte Gernot. „Da würdest du aber ein brauner Wurm sein! “, sagte ich. „Und Cord, der würde ein gelber Wurm sein mit braunen Punkten, weil der nur Kartoffelpuffer essen würde. Und Jörn würde ein roter Wurm sein, weil er so gerne Erdbeeren mag.“ –
Ja, und nun standen wir alle in der Scheune vor der Wand, an der ganz viele Schmetterlingspuppen klebten, und beobachteten die eine, aus der sich ein Schmetterling herausquälte. „Aus so einer kleinen Puppe soll ein ganzer Schmetterling heraus passen? Das kann ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Jörn. „Nein, ich auch nicht“, sagte Gernot. „Vor allen Dingen die Flügel, der muss sich ja ganz einwickeln.“
Natürlich standen wir nicht die ganze Zeit da. Wir gingen zwischendurch immer wieder hinaus und spielten und immer wieder kamen wir herein und guckten, wie weit der Schmetterling gekommen war. Schließlich war er wirklich draußen, aber er sah eigentlich mehr wie eine Heuschrecke aus. Und die Flügel – ach, die waren ja so zerknickt! „Wie will er denn die Flügel glatt bekommen ?“, fragte Cord. „Mit so zerknickten Flügeln kann er doch nicht fliegen!“„Der ist auch noch ganz nass“, sagte Gernot. „Wir holen einen Stock“, meinte Jörn. „Dann lassen wir ihn vorsichtig darauf klettern und tragen ihn in die Sonne, vielleicht wird er dann schneller fertig.“
Wir legten das Stöckchen mit dem Schmetterling auf die Bank in die Sonne. Und tatsächlich! Langsam wurden die zerknitterten Fetzen immer größer und glatter, immer flügelähnlicher. Wir staunten alle. „Wie der das macht!“ sagte Jörn bewundernd. „Da sind doch keine Knochen und Muskeln, nichts! Und trotzdem entfaltet er seine Flügel, ganz allein.“ „Guckt mal, jetzt hat er ein richtiges Fell am Körper! Zuerst, als er noch nass war, konnte man das gar nicht sehen.“
Wir sahen wieder auf den Schmetterling. Richtig hübsch war der geworden, die Flügel glatt, der Körper flauschig. Seit einer Weile schon bewegte er langsam die Flügel auf und ab. Und dann konnten wir auch seinen Rüssel sehen. Der war eingerollt wie eine Spirale und winzigklein. Flugs hatte er ihn ausgerollt und lang gemacht, und dann schnurrte er wieder zur Spirale zusammen. Das sah so lustig aus, dass wir alle lachten. Gernot rannte nach einer Blüte, um ihn zu füttern. Aber – vielleicht war er zu hastig, oder es war einfach nun die Zeit gekommen. Der Schmetterling erhob sich und flog taumelnd davon.
Immer höher und immer sicherer flog er, bis er hinter den Bäumen verschwand und wir ihn nicht mehr sehen konnten.
Erzählung für Kinder von Gesine Marcus ©